Qi Yu | Ich in einer neuen Welt (2024)

Ich dachte, dass ich einfach akzeptieren müsste, dass ich mein Berufsleben nie ganz frei entscheiden können würde. Ich dachte auch, dass ich die Liebe meiner Mutter zum Fußball gar nicht geerbt hätte. Aber anscheinend war ich völlig falsch.

  1. Der Sommer mit vielen Änderungen
  2. Leroy
  3. Mama
  4. Vielleicht hat meine Nostalgie doch einen Grund

1 Der Sommer mit vielen Änderungen

An einem heißen Juni-Tag saß ich in einem Restaurant mit ein paar Freunden, die ich lange nicht gesehen hatte. Wie üblich erzählten wir uns gegenseitig die Neuigkeiten aus unserem Leben. Ganz am Anfang warf ich neben dem Gespräch noch hin und wieder einen Blick auf einen großen Fernseher an der Wand, wo das EM-Gruppenspiel zwischen Spanien und Albanien live übertragen wurde. Es stand 1-0: Spanien hatte bereits ein Tor gewonnen, und es sah nicht danach aus, als würde noch etwas Spektakuläres passieren. „Jetzt kann ich mal mit meinem blöden Nebenbei-EM-Schauen aufhören“, dachte ich.

Dann habe ich angefangen zu erzählen, dass ich bald mit einer neuen Stelle als Softwareentwicklerin anfangen würde. Anschließend hat ein Freund mich gefragt:

„Also hast du die Forschung verlassen? Aber brauchst du denn überhaupt einen PhD für deine neue Stelle? Ist dieser neue Job das, was du willst, oder machst du das nur, weil du einfach irgendeinen Job brauchst?“

Oha, sie sind ja mal klassische Fragen, die jemand mit einem PhD beantworten muss, der am Ende doch keine wissenschaftliche Karriere anstrebt. Aber ich war mir sicher, dass er mich das nicht böswillig gefragt hat, sondern aus Neugierde. Schließlich promoviert er zurzeit auch. Auch wenn seine Intonation etwas boshaft klingen mochte.

Meine Antwort: Selbstverständlich braucht man keinen PhD, um als Softwareentwickler zu arbeiten. Ich bin auch nie der Meinung, dass ich mich unbedingt in dem Jobmarkt so verkaufen muss, dass mein PhD einen Mehrwert bringt, nur weil ich ihn irgendwann in meinem Leben gemacht habe. Nutzenmaximierung ist kein falscher Gedanke, aber ein überpragmatischer Mensch wäre ein äußerst tragischer Mensch. Ich meine damit, dass es mir viel wichtiger ist, dass mir der Job Spaß macht, als dass ich eine Nutzenmaximierung meiner akademischen Qualifikation erziele.

Und ja, der neue Job ist das, was ich immer wollte. Ich fühle mich nicht nur glücklich, sondern bin äußerst zufrieden damit, dass ich endlich den Luxus habe, einen Weg komplett nach meinem Interesse zu wählen. Immer wieder stelle ich fest, dass vielen Menschen hier in Europa nicht klar ist, dass nicht alle in der Welt sich frei über ihr Studium und ihren Karriereweg entscheiden können. In manchen Gegenden der Welt kann man einfach einem Studiengang „zugewiesen“ werden. Oder aufgrund bestimmter systematischer Gründe ist die Auswahl gar nicht so groß. Ich rede hier nicht davon, dass man vielleicht nach dem Abitur nicht so richtig wusste, was man will, und dann im falschen Studiengang gelandet ist. Ich rede von einer ganz anderen Situation, in der man nicht mal eine Auswahlmöglichkeit hat, auch wenn man weiß, was man will.

Ich war so ein Beispiel: Ich habe einen total seltsamen Berufswerdegang, weil ich immer wegen komplexer Bildungssystem-, Visums-, oder Finanzierungsgründen meinen Karriereweg nicht so ganz frei wählen konnte. Aber jetzt ist diese Geschichte endlich vorbei: Ich habe mich für Softwareentwicklung interessiert, und deshalb habe ich mich in diese Richtung bewegt. Rein aus Interesse. Nicht mehr eine Entscheidung mit Kompromiss. Naja, jetzt höre ich mal auf, über meinen Werdegang zu labern. Konklusion: Ich bin sehr zufrieden mit dem neuen Kapitel meines Berufslebens. Fertig.

An dem Tag schied Albanien wie erwartet aus dem EM aus. Aber das Unerwartete war, dass ich in diesem Sommer ein Fußball-Fan geworden bin.

2 Leroy

Im Juni habe ich das erste Fußballtrikot meines Lebens gekauft – das pinkfarbige Auswärtstrikot der deutschen Nationalmannschaft. Mein Freund meinte, mein Interesse an Fußball stamme von diesem pinken Trikot. Aber das stimmt nicht. Mein Interesse kam vielmehr von den zwei EM-Gruppenspielen, die ich mit ihm zusammen geschaut habe. Nachdem ich durch seine Erklärungen die Regeln des Fußballspiels einigermaßen kapiert habe, finde ich diese Sportart absolut faszinierend.

Und mein Fußball-Fieber rührt auch von meiner Vorliebe für Leroy Sané her.

Natürlich nicht wegen Sanés unbefriedigender Leistung beim diesjährigen EM. Es gab andere Gründe. Ich habe ihn in dem Spiel zwischen Deutschland und Ungarn kennengelernt, bei dem die deutsche Mannschaft im Auswärtstrikot antrat. Da hat Leroy Sané sofort meine Aufmerksamkeit aufgefangen: Das pinke Trikot fand ich schon immer schick, aber mit seiner etwas dunklen Hautfarbe und seiner Dutt-Frisur sah es besonders schick aus. Sein Aussehen ist eine absolute Schönheit – „einfach besonders“, habe ich damals gedacht. Meine Vorliebe für Sané hat aus solch einem lächerlich oberflächlichen Grund angefangen, der komplett nichts mit Fußball zu tun hat.

Dann habe ich nach seinem Namen gegoogelt und ein Paar Interviews mit ihm geschaut. Er sieht oft leicht missgelaunt beim Spielen aus, aber außerhalb des Spieles wirkt er ganz schelmisch bei seinen Mitspielern und lacht so laut und fröhlich, dass sogar eine gute Laune bei mir durch den Computerbildschirm angezündet wird. Bei bestimmten Körpersprachen von ihm habe ich aber auch ein starkes Bauchgefühl, dass er innerlich ein hoch introvertierter Typ sein müsste. Für mich haben solche Menschen immer eine seltsame Attraktion. Er ist wie eine Art von Sahnelikör: Ein extrem süßes Innere, das in einer schönen Packung verpackt wird. Schoko-farbig und stark. Ein polarisiertes Produkt, und ich bin eine Liebhaberin davon. Sahnelikör, Sahnélikör. 😀

Ich habe viel Kritik an seiner schlechten Leistung beim EM gelesen. Aber irgendwie dachte ich immer, dass es viel wichtiger sei, dass er einfach weiter gesund und glücklich Fußball spielt. Aber gewissermaßen bin ich falsch. Dies wurde mir erst bewusst, als mein Freund beim Spiel Deutschland gegen Dänemark sagte:

„Jetzt hau doch endlich mal den Ball rein.“

Ein paar Minuten später hat der Leroy Sané vor dem fast leerstehenden Tor der dänischen Seite den Ball in der fälschlichsten Weise verschossen. Ich fasste mich fassungslos an dem Kopf.

Ja, stimmt. Bei einer K.O.-Runde reicht es nicht aus, nur schön und richtig zu kicken. Man muss ein Tor erzielen. Das wird besonders erwartet, wenn man der Superstar mit einem krass hohen Gehalt ist und im Angriff-Platz der Nationalmannschaft spielt.

Interessanterweise habe ich bei diesem Satz meines Freundes an meine letzten Jobs gedacht. Bei meinem Wechsel von dem letzten Job in der Forschung zu meinem aktuellen Job in der Industrie musste ich mich selbst auch mehrmals daran erinnern, dass das Ziel meiner Arbeit jetzt völlig anders ist. In meinem letzten Job in der Grundlagenforschung habe ich Data-Science-Lösungen der Sozialwissenschaft implementiert, aber da musste ich nicht über die Ingenieur-Perspektive kümmern. Solange meine Skripte sinnvolle Ergebnisse ausspucken, ist alles gut. Aber jetzt muss ich meine Implementierungen auch in einem marktfähigen Zustand liefern können. Also muss ich auch „endlich mal den Ball reinhauen“. Ich arbeite noch daran. Es gibt neue Sachen, die ich lernen muss, und manche Tage können etwas holprig sein. Aber ich merke jeden Tag meinen Fortschritt.

Ich bin auch fest davon überzeugt, dass Sané sich bald von seiner Verletzung erholen und zu seiner Höchstform zurückfinden wird.

Hey Leroy. Bis bald.

3 Mama

Wann immer ich in ein Gespräch über Fußball gerate, muss ich von meiner Mutter erzählen. Sie war ein großer Fan von Fußball und für eine lange Zeit die einzige Quelle meiner Fußballkenntnisse.

Die Zeit der EM und WM war immer eine Orgie für sie. Manchmal kauerte ich neben ihr im Sofa und schaute mit – ich fand Fußball belanglos, aber als Einzelkind musste ich zu Hause selbst irgendwelche Bespaßung finden. Sie zeigte mir all die damaligen Superstars: Das ist Figo. Das ist Ronaldo. Das ist Cafu. Dann erzählte sie der halbschlafenden mir: Schau, die in dem grünen Trikot kommen aus Senegal – das ist ein afrikanisches Land mit einer ziemlich guten Mannschaft.

Und ein Paar Jahre später hörte ich andere Namen von ihr: Das ist Kahn. Das ist Buffon. Das ist Kaká.

Ab und zu bei der diesjährigen EM habe ich sie gefragt, ob sie die Spiele verfolgt hat. Da bemerke ich, dass ihr Interesse an Fußball schon nachgelassen hat. Total logisch, da sie schon 55 Jahre alt ist und bestimmt nicht mehr jedes Spiel verfolgt, die von irgendwo in Europa übertragen wird und erst spät nachts in China ankommt. Sie kennt die junge Generation der Fußballspieler nicht mehr. Würde ich jetzt wieder mit ihr im Sofa sitzen, wäre wahrscheinlich ich diejenige, die ganze Zeit plaudert: „Schau, Mama, das ist Antonio Rüdiger von Real Madrid, und ihn finde ich so toll; das ist Jamal Musiala, der junge Superstar von Bayern München; das ist Leroy Sané – übrigens, Sanés Vater kommt aus Senegal. Damals habe ich das Land Senegal beim Fußballschauen mit dir kennengelernt. Vielleicht kennst du einen Spieler von damals, der auch Sané heißt.“

…Das wäre ein lustiger Rollenwechsel zwischen meiner Mutter und mir. Oder eben nicht, weil sie sich ja nicht mehr so sehr für Fußball interessiert.

Zwischen den Gesprächen über Fußball habe ich ihr auch erzählt, dass ich jetzt einen neuen Job habe. Ich hatte erwartet, dass sie mich vielleicht fragt, worum es bei meinem neuen Job geht und ob er mir Spaß macht. Aber das hat sie alles nicht getan. Stattdessen hat sie mich bloß gefragt, ob ich für meinen neuen Job und für diesen Sommer neue Kleider gekauft habe. Sie sagte, ich solle mir einen schwarzen Faltenrock kaufen. Er sei chic und nie altmodisch.

Oh, wie sehr ich diese Mentalität von ihr liebe: Egal was passiert, mach dich zuerst mal hübsch. Und ja, ich habe tatsächlich mehrere schwarze Faltenröcke. Zweimal habe ich sie zusammen mit meinem pinken Trikot angezogen. Das sieht auf den ersten Blick seltsam aus, aber ich liebe diese Seltsamkeit. „Besonders sein“ ist manchmal für mich besser als „besser werden“.

Diese großen Namen wie Ronaldo, die ich damals von meiner Mutter kennengelernt habe, sind längst nicht mehr aktiv im Fußball. Nach dem Achtelfinal dieses Jahres habe ich auch gelesen, dass das Achtelfinal das letzte Spiel von Toni Kroos war. Da ist Deutschland nämlich leider ausgeschieden. „Eine Epoche ist vorbei“ – klischeehafte Sätze wie diesen lese ich im Internet. Diese Epoche habe ich genau genommen nie so richtig miterlebt. Doch warum fühle ich so nostalgisch über ihr Ende?

Das ist sicher nicht ohne Grund. Aber ich kann den Grund nicht erklären.

4 Vielleicht hat meine Nostalgie doch einen Grund

Natürlich kann ich nicht sagen, wie lange mein Fußball-Fieber bleiben wird. Aber selbst wenn mein Interesse eines Tages verschwendet, werden zwei Szenen für immer in meiner Erinnerung bleiben:

  • Der Achtelfinal zwischen Deutschland und Spanien der EM 2024 fand an einem Freitag statt. Da habe ich extra früher angefangen zu arbeiten und bin kurz vor 17 Uhr rasch in die Toilette des Bürogebäudes gerannt, habe mein Hemd ausgezogen und mein Trikot angezogen. Unterwegs bin ich kurz einkaufen gegangen, und die Frau an der Kasse des Supermarktes sagte mir „Viel Spaß – mit Sieg!“. Auf der Straße habe ich viele andere Menschen im deutschen Trikot gesehen, darunter ein Kind im Auswärtstrikot mit der Nummer 19 – es fiel mir sofort ins Auge, denn 19 ist die Nummer von Sané.

    Ich bin im schnellsten Tempo in die Gegenrichtung von den Trikot-Menschen geradelt. Sie wollten zum Public-Viewing im Stadtzentrum, aber ich wollte so schnell wie möglich nach Hause, um das Spiel mit meinem Freund zusammen zu schauen. Auch wenn wir schon seit sieben Jahren lang zusammenleben und uns jeden Tag sehen, gibt es immer noch Momente, in denen ich ihn unbedingt sofort sehen will.

  • Als ich mit meiner Mutter zusammen den 2002 WM geschaut habe, hatte ich null Interesse an Fußball, bis auf die Namen und die Rückennummern auf den Trikots. Die Namen schreibt man auf Chinesisch total anders, aber ich wollte ihre Schreibweise in lateinischen Buchstaben lernen. Bei einem Spiel von Brasilien habe ich meine Mutter gefragt:

    „Ich kann den Namen der Nr. 9 buchstabieren: Ro-nal-do. Und den der Nr. 10 auch: Ri-val-do. Aber wie buchstabiert man den Namen der Nr. 11? “

    Sie wusste das auch nicht. Dann haben wir ganze Zeit versucht, den Namen von der Nr. 11 zu notieren. Das war gar nicht einfach: Der Spieler war kurz in der Kamera, aber rannte schnell wieder aus dem Fokus.

    Nächsten Morgen hat sie mir einen Zettel in die Hand gedrückt, als ob das der wertvollste Schatz der Welt wäre. Auf dem Zettel stand „Ronaldinho“. Ich war überrascht, aber gewissermaßen war es auch keine Überraschung. Ich wusste immer, dass Mama alle meiner Wünsche erfüllen würde.

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